11 Jun 2024

Blick ins Projekt: Wo warst Du? – Tagebuch der Gefühle

Mehrere junge Personen legen Blumen auf Gedenktafeln.

Bild: Christine Dose

Bei „Blick ins Projekt“ stellen sich Projekte vor, die durch Fonds der HALLIANZ für Vielfalt gefördert wurden! Das heutige Projekt wurde durch den HALLIANZ Jugendfonds gefördert. „Wo warst Du?“ ist eine Aktion des Geschichtsprojektes „Tagebuch der Gefühle“. Im Rahmen des Projektes fand im Mai 2024 eine Gedenkstättenfahrt nach Polen statt. Von den Teilnehmenden wird in Verbindung mit der Fahrt ein Podcast und eine Ausstellung entwickelt. In diesem Beitrag findet Ihr den ausführlichen Bericht der Gedenktstättenfahrt, genauso wie hier zum Download.

 

Projektgruppe auf inklusiver Spurensuche in Polen:
Podcasts gegen das Vergessen entstehen

Vom 08. bis 12. Mai 2024 fuhren sechs Teilnehmende des Projektes „Tagebuch der Gefühle“ und sechs Schüler*innen des Landesbildungszentrum (LBZ) für Blinde und Sehbehinderte „Hermann von Helmholtz“ auf eine gemeinsame Gedenkstättenfahrt nach Polen. Für die Fahrt hatten sie sich in Teams aus jeweils zwei Personen aufgeteilt – immer eine Person der Projektgruppe „Tagebuch der Gefühle“ und ein Schüler oder eine Schülerin mit einer Seh- oder Lerneinschränkung. Die Teams hatten sich zur Aufgabe gesetzt einen Podcast zu produzieren, in dem die persönlichen Eindrücke der Gedenkstättenfahrt festgehalten werden. Die Podcasts sollen später Schulen zur Einbindung in den Unterricht bereitgestellt werden.

Am ersten Tag stand eine Führung durch das Stammlager Auschwitz I an. Die Projektgruppe ging einen langen, grauen, aus Beton gebauten Gang in Richtung der Gedenkstätte. Über Lautsprecher wurden die Namen der Opfer vorgelesen. In der Gedenkstätte führte der Guide die Gruppe u.a. zum Block 11, dem sogenannten Todesblock. Hier befand sich das Lagergefängnis, in dem die Inhaftierten extremen Bedingungen ausgesetzt wurden. In Stehzellen im Keller der Baracke mussten Häftlinge in absoluter Dunkelheit über mehrere Tage zusammengepfercht ausharren. An der sogenannten Todeswand im Hof des Blockes fanden regelmäßig Exekutionen statt. Insgesamt wurden allein dort etwa 20.000 Menschen durch Erschießen hingerichtet. Die Projektgruppe gedachte hier den Opfern. In späteren Gesprächen über den Tag wurde von Teilnehmer*innen angemerkt, dass es zu wenige Möglichkeiten zum Innehalten während des mehrstündigen Rundgangs gab. Dadurch ging der emotionale Bezug zur Thematik und zum Ort des Geschehens teilweise verloren. Das lag auch an der hohen Anzahl der internationalen Besuchergruppen, die zur Besuchszeit die Ausstellungen besichtigten und sich durch diese drängten.

Der zweite Tag startete mit einem Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, welches das größte deutsche Vernichtungslager im NS-Staat war. Die Projektgruppe war überrascht von der enormen Größe des Lagers. Auf einer Führung durch die Gedenkstätte merkten einige Teilnehmer*innen an, dass man teilweise vergessen würde, sich in einem Konzentrationslager zu befinden. Blauer Himmel, Vogelzwitschern und Störche auf den Wiesen sorgten für eine befremdlich angenehme Stimmung. Die Stacheldrahtzäune, Baracken und die Erläuterungen des Guides brachten den Bezug zu den Grausamkeiten dieses Ortes zurück. Diese verarbeiteten die Teams auch direkt in ihren Podcasts, die sie auch hier vor Ort aufnahmen. Ein Stadtrundgang durch Oświęcim, den Ort in dem sich das Museum und KZ-Gedenkstätte Auschwitz befindet, rundete den Tag ab. Hier besuchte die Projektgruppe die ehemalige Synagoge und erfuhr spannendes über das vielfältige jüdische Leben vor dem Nationalsozialismus. Bei einer solchen emotional herausfordernden Thematik ist es wichtig, über die individuellen Gedanken und Gefühle offen zu sprechen. Dies taten wir in gemeinsamen Auswertungsrunden am Abend. Bei der Verarbeitung der Eindrücke half aber auch das Aufnehmen der Podcasts. Die Teams kommunizierten dabei viel miteinander und konnten direkt vor Ort über das sprechen, was sie bewegte.

Nach zwei Tagen in der Gedenkstätte bedurfte es auch etwas Abwechslung. Hierfür fuhr die Projektgruppe am letzten Tag der Gedenkstättenfahrt nach Krakau. Vom Hauptmarkt Krakaus ging es auf einer geführten Tour bis ins historische jüdische Viertel Kazimierz. Hier besichtigte die Gruppe auch einen originalen Drehort aus dem Film „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg. Am Nachmittag hatte die Projektgruppe die Möglichkeit, eine der letzten Überlebenden des Holocausts aus Krakau und Umgebung zu treffen. Monika Goldwasser erzählte der Projektgruppe von ihrem bewegten Leben. Sie kam im Jahr 1941 als Kind einer jüdischen Familie in einer kleinen Stadt südlich von Krakau zur Welt. Ihre Eltern gaben sie in die Hände eines Bauernpaares, um Monikas Leben im Falle einer Deportation zu retten. Diese brachten sie wenig später in ein Krakauer Waisenhaus. Dort wurde sie von einem polnischen Paar adoptiert, mit welchem sie sich bis zum Kriegsende verstecken konnte. Im Alter von elf Jahren erfuhr sie von ihren leiblichen Eltern und beschloss, nach langer Geheimhaltung, ihre Geschichte mit der Welt zu teilen. Für alle Teilnehmenden war das einstündige Gespräch eine prägende Erfahrung und eine Mahnung, diese Geschichten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Nach drei intensiven Tagen vor Ort ging es mit neuem Wissen, zahlreichen Eindrücken und einem besseren Verständnis vom Gegenüber zurück nach Halle. In den kommenden Wochen beginnt die Nachbereitung mit dem Schnitt der sechs Podcasts. Zudem ist eine gemeinsame Fahrt nach Berlin geplant, bei der es einen besonderen Fokus auf die „Euthanasie“-Morde geben wird. Im Rahmen der Aktion T4 wurden mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland im Nationalsozialismus ermordet. Des Weiteren wird die Gruppe gemeinsam an der barrierearmen Ausstellung „Wo warst Du?“ arbeiten. Die Ausstellung entwirft die Projektgruppe „Tagebuch der Gefühle“ anlässlich des fünften Gedenktags an die Opfer des terroristischen Anschlags von Halle am 09. Oktober 2019. Über 1000 Stimmen der Stadtgesellschaft fließen in die Ausstellung ein. Die Gedenkstättenfahrt wurde gefördert durch Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt.

 

 

Über das Projekt „Tagebuch der Gefühle“

Seit 2011 gehen Jugendliche der Projektgruppe „Tagebuch der Gefühle“ in ihrer Freizeit auf Spurensuche. Sie beschäftigen sich mit der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei setzen sie sich mit Biografien von Opfern und Tätern auseinander, putzen Stolpersteine und besuchen Gedenkorte in ganz Europa. In „Tagebüchern der Gefühle“ schreiben sie ihre Gefühle und Gedanken auf, produzieren Videos, erstellen Zeichnungen und Comics. In Präsentationen an Bildungseinrichtungen und in öffentlichen Veranstaltungen teilen sie ihre persönlichen Erfahrungen und kommen ins Gespräch. Sie bezeichnen sich selbst als die „neuen Zeitzeugen“, da sie die Geschichten der Opfer des Nationalsozialismus weitertragen und für eine tolerante und vielfältige Gesellschaft einstehen. Für ihre Arbeit wurden sie mit zahlreichen Demokratie- und Engagementpreisen, unter anderem mit dem „Margot-Friedländer-Preis“ 2021, ausgezeichnet.